Alles rund ums Tragen

Der Mensch - ein Tragling

Babys kommen mit einem Steinzeit-Programm zur Welt: Damals zogen die Menschen von Ort zu Ort, sie schliefen gemeinsam am Lagerfeuer und überall lauerten wilde Tiere. Der einzig sichere Platz für ein Baby war dicht am Körper eines Erwachsenen. Nur da konnte es wirklich sicher sein, immer mitgenommen zu werden. Nur da konnte es ganz entspannt und ohne Angst einschlafen. Und nur da konnte es seine Bedürfnisse wie z.B. Hunger ohne viel Aufwand mitteilen.

 

Jahrhunderte und Jahrtausende lang wurden Babys in allen Kulturen der Welt am Körper getragen. Auch in unseren Breitengraden. Der Kinderwagen - so hilfreich er zwischendurch sein mag - wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden und entspricht so gar nicht unserer Natur. Denn wir wissen heute: Menschenbabys gehören zum Jungentypus Tragling.

 

In der Natur gibt es drei Jungentypen. Zu den "Nesthockern" gehören zum Beispiel junge Mäuse oder Vögel. Sie werden völlig nackt, blind und hilflos geboren und hocken wortwörtlich im Nest, während ihre Eltern auf Nahrungssuche gehen. Um zu überleben, müssen sie sich ruhig verhalten und ausharren, bis die Eltern zurück kommen. Die "Nestflüchter" sind Herdentiere wie Elefanten oder Pferde. Sie stehen kurz nach der Geburt auf und folgen der Herde. Für sie ist der Sichtkontakt lebensnotwendig. Ist die Herde zu weit entfernt, besteht die Gefahr, dass sie zurückbleiben und von Raubtieren gefressen werden. Zu den "Traglingen" gehören nebst dem Menschen auch Affen und Krokodile. Diese Arten tragen ihre Jungen mit sich herum, denn sie sind noch nicht genug selbständig, um sich selbst fortzubewegen und - ganz wichtig - sie müssen am Körper der Eltern nachreifen. Für diese Jungen ist der Körperkontakt lebensnotwendig. Sich nicht am Körper zu befinden, bedeutet höchste Gefahr.

Tragen aus evolutionsbiologischer Sicht

 Dass Babys fürs Tragen gemacht sind, kannst du gut selbst beobachten. Zum Beispiel ziehen schon Neugeborene automatisch die Beine in die sogenannte Anhock-Spreiz-Haltung an, die perfekte Körperhaltung, um getragen zu werden. Und schon bald helfen die Kleinen aktiv mit und stabilisieren sich immer besser am Körper des Erwachsenen. Auch der Greifreflex der Hände und Füsse ist ein Hinweis darauf, sowie der Nachgreifreflex (Moro-Reflex), wenn ein Baby erschrickt und das Gefühl hat, zu fallen.

 

Die Evolutionsbiologie liefert die Erklärung dafür: Als nämlich die Menschen noch als Jäger und Sammler ein nomadisches Leben führten, war es für ein Baby lebensnotwendig, getragen zu werden. Abgelegt zu werden bedeutete, zurückgelassen zu werden - und dies war der sichere Tod, denn alleine konnte das Baby nicht überleben und Fressfeinde lauerten überall.

 

Und heute? Die Gesellschaft hat sich gewandelt, wir sind sesshaft und zivilisiert. Doch die alten Instinkte sind geblieben. Ein Baby weiss noch nicht, dass es im kuscheligen Babybettchen nicht von einem Säbelzahltiger gefressen wird. Nur in den Armen einer Bezugsperson fühlt es sich so richtig sicher. Weint dein Kind, wenn es allein ist oder du es ablegst, ist dies also eine ganz normale Reaktion - ein raffinierter Sicherheitsmechanismus der Natur. Ignoriere dieses sogenannte "Kontaktweinen" deines Babys nicht. Auch wenn tatsächlich keine akute Gefahr besteht, ist dein Baby in höchster Alarmbereitschaft und in einem ungesunden Stresszustand. Nimm es in den Arm, gib ihm die Sicherheit, die es braucht.

 

Es gibt auch Babys, die den Körperkontakt weniger stark einfordern. Das Tragen lohnt sich auf jeden Fall trotzdem, denn es stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind und unterstützt wichtige Funktionen wie den Gleichgewichtssinn, den Atemrhythmus, die Körpertemperatur und hat viele weitere Vorteile.

Vorteile des Tragens

Die Vorteile fürs Baby

  • Sanfter Start ins Leben - Das Leben ausserhalb der warmen, gemütlichen Gebärmutter ist ganz schön hart für ein so kleines Wesen. Es ist kalt und hell und lärmig. Getragen zu werden, gibt dem Baby etwas von der Gebärmutteratmosphäre zurück und hilft ihm, sich langsam an das Leben ausserhalb anzupassen.
  • Sichere Bindung - Körperliche Nähe zu seinen Liebsten ist ein Grundbedürfnis eines Säuglings. Durch das Tragen wird dieses Bedürfnis erfüllt, was zu einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind beiträgt. Und eine sichere Bindung wiederum macht das Kind später selbstbewusster, ausgeglichener und selbständiger.
  • Lebensnotwendige Funktionen - Tragen unterstützt lebenswichtige Funktionen. Das Baby hört Herzschlag und Atmung. Das hilft ihm beim Einpendeln seines eigenen Atemrhythmus. Auch die Temperatur des Babys wird durch die Nähe zur Trageperson reguliert. Es wird gewärmt oder gekühlt, je nach dem, was es gerade braucht.
  • Körperliche Entwicklung - Wird ein Kind getragen, gleicht es ständig die Bewegungen der Trageperson aus. So werden seine Muskeln gestärkt und die motorische Entwicklung gefördert. Auch die Reifung der Hüften und der Wirbelsäule wird optimal unterstützt.
  • Ein Fest für die Sinne - Das Baby sieht, hört und riecht die verschiedensten Dinge, wenn es getragen wird. Durch die Bewegung wird der Gleichgewichtssinn angeregt und durch Berührungen, Druck und Vibrationen der Tastsinn stimuliert. Das Tolle dabei: Beim Tragen ist das Baby in einem Zustand von entspannter Aufmerksamkeit – dem idealen Zustand zum Lernen!
  • Koliken ade - Durch die Wärme am Körper und die ständige Bewegung wird die Verdauung stimuliert. Das Bäuchlein wird konstant massiert - und Bauchkoliken werden reduziert.
  • Immer mit dabei - Babys müssen nicht stundenlang bespasst werden. Am Körper getragen sind sie mitten im Geschehen und doch geborgen. Wenn es müde wird, kann das Baby sich an dich kuscheln und schlafen.


Am Körper getragen erholt sich dein Baby wunderbar von den vielen Reizen des Alltags. Es findet leichter seine Balance und weint viel weniger. Ausserdem schläft ein entspanntes Baby besser.



Die Vorteile für die Trageperson

  • Mehr Kompetenz - Spürst du jede Regung deines Kindes sofort, kannst du feinfühlig reagieren und seine Bedürfnisse rasch erfüllen. So wirst du kompetent und sicher im Umgang mit dem Baby und diese Sicherheit wirk beruhigend auf dein Kind.
  • Mehr Harmonie - Häufig getragene Babys schreien weniger und schlafen oft nachts besser. So hast du nicht nur ein ausgeglichenes Kind, sondern bist auch selber fit und zufrieden.
  • Mehr Freiheit - Ein praktischer Aspekt des Tragens ist, dass du die Hände frei hast für andere Dinge. Ein Geschwisterkind, den Haushalt, ein Hobby. Du musst dich nicht ab dem sperrigen Kinderwagen im ÖV ärgern, oder darüber, dass sich Lift oder Unterführung ausgerechnet am anderen Ende des Perrons befinden.
  • Mehr Fitness - Babytragen ist das praktische Fitnesstraining im Alltag. Mit einer guten Trageweise trainierst du im Alltag mit dem steigenden Gewicht deines Kindes. Deine Rückenmuskulatur und dein Beckenboden werden gestärkt.

Tipps für schöne Tragemomente

  • Es gibt kein Zuviel! Du kannst dein Baby durch häufiges Tragen nicht verwöhnen, auch wenn dir das einige Leute einreden wollen. Hör auf dein Herz und geniesse die Nähe!
  • Achte jederzeit auf freie Atemwege und Frischluftzufuhr! Tuch, Träger oder Jacken über dem Gesicht des Babys sind gefährlich.
  • Sorge für eine gute Stützung im oberen Rücken durch sattes, straffes Binden. Viele Babys weinen, wenn das Tuch oder die Tragehilfe zu locker sind, denn dann sackt es in sich zusammen und das Atmen wird anstrengend.
  • Ermögliche deinem Baby die Anhock- Spreiz-Haltung, bei der die Knie höher sind als der Po und sich der Rücken schön einrundet. ACHTUNG: Herunterhängende Beine ergeben einen ungesunden Zug auf das unreife Hüftgelenk und das Baby sitzt auf seinen Genitalien.
  • Trage dein Baby immer mit dem Gesicht zu dir. Nur so kann es eine gesunde, bequeme Haltung einnehmen und wird nicht von ungefilterten Eindrücken überreizt. Will das Baby mehr sehen, gehört es auf deinen Rücken oder deine Hüfte. Wir zeigen dir gern in einer Beratung, wie’s geht.
  • Jedes Baby will getragen werden. Falls nicht, gibt es dafür immer einen Grund. Wir helfen dir gern, ihn zu finden.


Tragen im Winter

 

Auch wenn ein Baby dick eingepackt ist: es bewegt sich kaum selber und kühlt daher schnell aus. Trägst du es, kann es von deiner Körper- und Bewegungs- wärme profitieren. Je weniger Kleidungsschichten zwischen euch sind, desto besser funktioniert der Wärmeaustausch. Daher empfehlen wir normale Wohnungskleidung (bei grosser Kälte in mehreren Schichten, dies isoliert am besten) und darüber eine Tragejacke. Schütze Kopf, Hals, Beine und Füsse gut, denn sie sind besonders exponiert. Grössere Kinder können gut eingepackt über der Jacke getragen werden. Herkömmliche Schneeanzüge eignen sich nicht zum Tragen, denn die Luftpolster werden zusammengedrückt und verlieren ihre Wärmefunktion. Besser geeignet sind Wollwalk Anzüge - sie halten die Körpertemperatur konstant und wärmen auch beim Tragen. 

 

Unser Podcast zum Thema Tragen:

Bild: Mamalila


Bild: Neisna

Tragen im Sommer

Der Körper der Trageperson ist auch im Sommer der beste Platz für ein Baby. Überhitzen kann das Baby nicht. Es wird durch den Körper des Tragenden gekühlt. Wenn es euch zu heiss wird, macht eine Pause. Meide die Mittagssonne, halte dich möglichst im Schatten auf und achte auf guten Sonnenschutz des Kindes. Bevorzuge eine einlagige, luftige Bindeweise, dünne, leichte Tücher und Materialien wie Leine, Bambus und Hanf. Oder trage in der Tragehilfe. Achte darauf, dass dein Baby genügend trinkt. Stille / füttere unbedingt nach Bedarf und nicht nach der Uhr.



Häufige Fragen

Verwöhne ich mein Kind durch das Tragen?

Nein! Leider glauben noch immer viele Leute, man könne ein Baby verwöhnen und es dadurch unselbständig oder gar zu einem kleinen Tyrannen machen. Das ist falsch. Nähe ist ein Grundbedürfnis des Säuglings, genauso wie Essen oder frische Windeln. Er möchte einfach nur sein Bedürfnis erfüllt wissen - und hat noch gar nicht die Fähigkeit, uns bewusst zu manipulieren. Ein Baby hat massvolle Bedürfnisse und werden diese erfüllt, entwickelt es ein starkes Urvertrauen. Es wird ausgeglichen, selbständig und sozial kompetent.

 

Verwöhnen wird erst nach dem Säuglingsalter zum Problem. Da kann es passieren, dass das Kind mehr haben will als es braucht - und wir es ihm geben. Dem Kind zu viele Spielsachen oder Süssigkeiten zu kaufen, es ständig zu bespassen und von jeglicher Frustration fernzuhalten. Das ist Verwöhnen.

 

Wenn dich das Thema Verwöhnen mehr interessiert, findest du hier einen ausführlichen Artikel dazu: Warum man Babys nicht verwöhnen kann.

Wie viel / häufig soll ich mein Kind tragen?

Es ist wissenschaftlich nicht geklärt, ob Tragen nach dem Prinzip "je mehr desto besser" funktioniert oder ob ein gewisser Grundstock an Tragzeit ausreicht, um von all den Vorteilen zu profitieren. Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder bis zu 50% weniger schreien, wenn sie 2-3 Stunden am Tag getragen werden. Auch sicher ist, dass es Kinder gibt, die mehr Nähe brauchen als andere. Je nach Temperament und Persönlichkeit. Und es gibt Phasen, da möchten Kinder fast nur getragen werden, und in anderen Phasen lieber auf eigene Faust die Welt entdecken. Du musst also für dich und dein Kind herausfinden, wieviel Tragen euch gut tut und im Alltag machbar ist. Wichtig ist, dass ihr das Tragen geniessen könnt.

Mein Kind will mehr sehen, soll ich es mit dem Gesicht nach vorne tragen?

Besser nicht! Auch wenn du dem Kind vermeintlich etwas Gutes tust, ist das Tragen nach vorn nicht sinnvoll. Kinder, die mehr sehen wollen, gehören auf den Rücken oder auf die Hüfte. In einer Trageberatung lernst du die für dich passende Trageweise kennen.

 

Warum nicht nach vorn:

  • Häufig hängen bei dieser Trageweise die Beine nach unten. So entsteht ein Zug auf die unreifen Hüftgelenke, was später zu Hüftproblemen führen kann. Zudem wird der Schambereich stark belastet - besonders bei Jungen kann dies später zu Problemen führen.
  • Das Kind kann keine korrekte Anhock-Spreiz-Haltung mehr einnehmen. Der untere Rücken kann sich nicht richtig einrunden und das Kind fällt ins ungesunde und unbequeme Hohlkreuz. So können Haltungsschäden und Rückenschmerzen entstehen.
  • Das Kind hat keine Chance, sich gemütlich an dich zu kuscheln, wenn es müde wird.
  • Dem Kind fehlt Halt - es kann mit seinen Beinchen weniger Ausgleichbewegungen machen und sich nicht an deinem Körper stabilisieren. Kein tolles Gefühl.
  • Das Kind hat keine Möglichkeit, den Kopf abzuwenden, wenn es plötzlich genug von all den Sinneseindrücken und Reizen hat. Eine solche Reizüberflutung kann zu abendlichen Schreistunden führen, oder dazu, dass das Kind nicht mehr abschalten kann und schlecht einschläft.
  • Das Kind verliert dich - seine wichtigste Bezugsperson - aus dem Blickfeld.
  • Bei einigen Traghilfen ist beim nach vorn gerichteten Tragen eine Schicht Stoff zwischen dir und dem Kind. So verliert das Kind dich nicht nur visuell als Fixpunkt, sondern kann dich auch nicht mehr gut spüren.

Übrigens: Am Rücken des Säuglings befinden sich mehr gegen Kälte isolierende Fettzellen als am Bauch. Ein Hinweis der Anatomie darauf, dass Babys zum Tragen mit dem Bauch zur Trageperson gemacht sind.

Mein Kind wird nicht gern getragen. Was nun?

Es liegt in der Natur von Menschenkindern, getragen zu werden. Auch wenn nicht alle gleich viel Nähe brauchen und einfordern - Babys, die grundsätzlich nicht getragen werden möchten, gibt es nicht. Das würde nämlich all ihren instinktiven Erwartungen und ihrem angeborenen Verhalten widersprechen.

 

Trotzdem kann es natürlich sein, dass sich dein Baby beim Tragen nicht wohl fühlt. Dann liegt die Ursache dafür ziemlich sicher nicht beim Tragen an sich, sondern hat einen anderen Grund. Diese Fragen helfen dir, dem auf die Spur zu kommen:

 

  • Sind alle anderen Bedürfnisse befriedigt? Hat das Baby Hunger? Friert oder schwitzt es?
  • Ist die Windel voll oder muss dein Baby mal? Manche Babys werden nicht gern getragen, wenn sie "mal müssen", denn sie wollen ihre Trageperson nicht beschmutzen.
  • Kannst du körperliche Beschwerden ausschliessen? Hat das Baby Hüftprobleme oder eine Blockade? Ist es krank, zahnt es?
  • Ist das Tuch korrekt gebunden bzw. die Tragehilfe richtig angelegt? Drücken irgendwo Schnallen oder Tuchstränge? Sitzt die Kleidung richtig? Ist das Kind gut gestützt oder sackt es in sich zusammen?
  • Stimmt die Haltung des Kindes (eingerundeter Rücken, Anhock-Spreiz-Haltung, Steg von Kniekehle zu Kniekehle)?
  • Läuft genug? Manche Kinder mögen es nicht, im Tuch oder der Traghilfe zu sein, wenn die Trageperson sich nicht bewegt. Vielleicht möchte es auch nach einer längeren Tragezeit mal wieder auf den Boden liegen und spielen.
  • Ist das Baby unruhig, weil es gern mehr sehen will und du noch vor dem Bauch trägst? Dann ist jetzt der Zeitpunkt, dein Kind auf dem Rücken zu tragen.
  • Manche Babys weinen während dem Einbinden, beruhigen sich aber rasch, wenn dann alles richtig sitzt und man mit ihnen herumläuft. Hast du zu früh aufgegeben?
  • Fühlst DU dich mit dem Tragen wohl? Dein Kind hat feine Antennen und spürt, wenn du dich unsicher oder unwohl fühlst beim Tragen. Passt dir die Tragehilfe oder die Trageweise? Ist es bequem? Magst du die Nähe?

Ich möchte / kann nicht tragen. Wird sich mein Kind jetzt weniger gut entwickeln?

Tragen macht nicht jedem Spass. Und damit Mutter und Kind wirklich davon profitieren, solltet ihr beide es geniessen können. Tragen ist die einfachste und natürlichste Art und Weise, dem Baby Nähe zu geben und es in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zu fördern. Jedoch kannst du die meisten Vorteile, die das Tragen mit sich bringt, auch auf andere Weise erreichen:

  • Für eine sichere Bindung benötigen Babys viel Körperkontakt und einen feinfühligen Umgang. Kuschle viel mit deinem Baby. Vielleicht ist Babymassage etwas für dich? Nimm die Signale deines Babys früh wahr und reagiere prompt darauf.
  • Auch wenn du dein Kind nicht stundenlang im Tuch oder der Traghilfe tragen magst, heb es trotzdem so oft wie möglich hoch, halte es im Arm und erlaube ihm so, seinen Gleichgewichtssinn zu schulen.
  • Ermögliche deinem Baby die verschiedensten Sinneseindrücke. Zeig ihm die Welt ausserhalb des Kinderwagens oder Laufstalls! (Achtung: Ist das Baby dabei nicht im Schutz deiner sicheren Arme, kann es schneller überreizt werden.)

Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, dass andere Personen wie Papa, Oma, Gotti oder Götti das Baby tragen, wenn es dir nicht möglich ist. Menschen sind eine gemeinschaftlich aufziehende Spezies und es schadet dem Baby keinesfalls, wenn es durch andere Personen als die Mutter getragen wird. Besonders für Väter wird so eine tiefe Bindung zum Kind ermöglicht.

Hat Tragen auch Nachteile?

Tragen ist toll, gesund, förderlich, praktisch und so weiter. Wo ist der Haken? Hat Tragen auch Nachteile?

 

Für das Kind - nein. Sofern die Kriterien für gesundes, ergonomisches Tragen erfüllt sind. Für uns Mamas ist Tragen allerdings eine ziemliche körperliche Belastung, da wir uns das von unserer Lebensweise her kaum gewohnt sind. Insbesondere nach der Geburt sollten wir eigentlich keine Lasten mit uns herumtragen und unserem Körper Zeit geben, sich zu erholen. Natürlich tragen wir trotzdem und das ist auch okay. Aber vielleicht könnten gerade am Anfang die Papas, Omas, Opas, Gottis und Göttis vermehrt beim Tragen helfen. Dem Baby schadet es jedenfalls nicht, wenn mal jemand anders als die Mama es trägt. Im Gegenteil!

 

Das Tragen auf dem Rücken schont übrigens den Beckenboden und den Rücken am meisten. Wie du schon ab Geburt auf dem Rücken tragen kannst, lernst du in einer Trageberatung.


Die Erwartung des Getragenwerdens

Dieser Text aus dem Buch «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück - Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit.» beschreibt eindrücklich, wie das Leben eines Säuglings aussieht, der seiner Natur gemäss aufwachsen darf.

 

AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN GLÜCK

«Die Kinder werden von Geburt an überallhin mitgenommen. Noch ehe die Nabelschnur abgefallen ist, ist das Leben des Säuglings bereits voller Anregungen. Meist schläft er, doch schon im Schlaf gewöhnt er sich an die Stimmen seiner Angehörigen, an die Geräusche, die mit ihren Handlungen verbunden sind, an die Stöße, Püffe und unerwarteten Bewegungen, an unerwartetes Anhalten, an Gehoben- und Gedrücktwerden gegen verschiedene Körperteile, während der Mensch, in dessen Obhut er sich befindet, ihn wie seine Tätigkeit oder Bequemlichkeit es erfordert, hin und her schiebt. Er gewöhnt sich an den Rhythmus von Tag und Nacht, an die Veränderungen von Stoffen und Temperaturen an seiner Haut und an das sichere, "richtige" Gefühl, gegen einen lebenden Körper gehalten zu werden. Sein dringendes Bedürfnis, sich dort zu befinden, würde ihm erst dann je bewußt werden, wenn man ihn von seinem Platz entfernte. [...] Er fühlt sich "richtig"; daher hat er nur selten das Bedürfnis, durch Weinen etwas zu signalisieren oder irgend etwas anderes zu tun, als zu saugen, wenn er die Lust dazu verspürt, und die Befriedigung des Saugreizes zu genießen; ebenso den Reiz und die Befriedigung des Defäkierens. Ansonsten ist er damit beschäftigt, zu lernen, wie es ist, am Leben zu sein. [...] Vielleicht liegt er auf einem Schoß in nur gelegentlichem Kontakt mit Armen und Händen, die mit etwas über ihm beschäftigt sind - etwa ein Kanu zu rudern, zu nähen oder Essen zuzubreiten. Dann fühlt er vielleicht plötzlich, wie der Schoß nach außen kippt und eine Hand sein Handgelenk ergreift. Der Schoß entfernt sich, und die Hand packt fester zu und hebt ihn durch die Luft zu neuem Kontakt mit dem Rumpf des Körpers, worauf die Hand losläßt und ein Ellbogen eine unterstützende Stellung einnimmt, indem er ihn fest gegen Hüfte und Brustkorb drückt; dann bückt sich der Körper, um etwas mit der freien Hand aufzuheben, wobei er ihn sekundenlang nach unten hält, geht dann weiter, rennt, geht wieder und läßt ihn dabei in unterschiedlichem Rhythmus auf- und niederhüpfen und erteilt ihm die verschiedensten Stöße. Danach wird er vielleicht an jemand anderen weitergegeben, wobei er fühlt, wie er den Kontakt mit dem einem Menschen verliert und in Berührung mit einem anderen Menschen kommt, der vielleicht knochiger ist oder die schrille Stimme eines Kinder bzw. die tiefe eines Mannes besitzt. Oder er wird von einem Arm wieder emporgehoben und in kaltes Wasser getaucht, bespritzt und gestreichelt, dann mit der Handseite gerieben, bis das Wasser aufhört, an seinem Körper herunterzutröpfeln. Dann wird er vielleicht wieder, feucht an feucht, an seinen Platz auf der Hüfte zurückbefördert, bis die Kontaktstelle große Hitze erzeugt, während die der Luft ausgesetzten Körperteile kälter werden. Danach fühlt er, wie die Wärme der Sonne ihn erreicht oder die besondere Kühle eines leichten Windes. Womöglich fühlt er beides, während er durch Sonnenschein in den Schatten eines Waldweges getragen wird. Er ist vielleicht fast trocken und wird dann von prasselndem Regen durchnäßt; später findet er dann sein Wohlgefühl wieder bei dem plötzlichen Wechsel von Kalt und Naß zu einem geschützten Platz mit Feuer, das seine Außenseite nun schneller wärmt, als die andere Seite Seite vom Körperkontakt erwärmt wird. Wenn ein Fest im Gange ist, während er schläft, wird er ziemlich heftig geschüttelt werden, da seine Mutter im Takt der Musik hüpft und stampft. Im Schlaf untertags stoßen ihm ähnliche Abenteuer zu. Nachts schläft seine Mutter an seiner Seite, ihre Haut wie immer an der seinen, während sie atmet und sich bewegt und manchmal ein wenig schnarcht. Sie wacht in der Nacht des öfteren auf, um das Feuer zu schüren; dabei hält sie ihn dicht an sich, indem sie sich aus der Hängematte rollt und zu Boden gleitet, wo er zwischen Oberschenkel und Rippen eingeklemmt wird, während sie die Scheite umschichtet. [...] Sein Leben, so voller Aktion, stimmt überein mit dem Leben, das von Millionen seiner Vorfahren gelebt worden ist, und es erfüllt die Erwartungen seines Lebens.»

 

Dieser Text stammt aus Jean Liedloffs Buch «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück - Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit.» Darin schreibt sie in den Siebzigerjahren ihre Beobachtungen bei den venezolanischen Yequana-Indianern nieder.

 

Bei den Yequana leben die Säuglinge von Geburt an bis ins Krabbelalter praktisch rund um die Uhr im Körperkontakt mit ihren Bezugspersonen. Sie werden tagsüber bei allen Aktivitäten getragen und schlafen nachts nahe bei der Mutter. Ihr Bedürfnis nach Nähe - aber auch nach ständiger Anregung ihrer aufnahmebereiten Sinne - wird so optimal erfüllt, dass sie bald bereit sind, sich von der Mutter zu lösen und selbständig und selbstbewusst die Welt zu erkunden. Sie wachsen zu ausgeglichenen, zufriedenen Menschen heran. Im Gegensatz zu Säuglingen, die viel alleine liegen müssen und vielleicht sogar alleine schreien gelassen werden. Diesen Kindern fehlt bis ins Erwachsenenalter hinein das vollständige Glücksgefühl des Getragenwerdens. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, sehnen sie sich stets nach diesem Gefühl und versuchen, es anderweitig zu erreichen. Zum Beispiel durch materielle Güter, durch Abhängigkeit von Partnern oder Freunden, die die Mutterfigur ersetzen, oder - im Extremfall - durch Drogenkonsum, der ihnen ein ähnliches Gefühl wie das Glücksgefühl des getragenen Säuglings verschafft.

 

Liedloffs Forderung, auch in der zivilisierten Gesellschaft unsere Kinder rund um die Uhr zu tragen, ist zwar eine hehre, aber kaum umsetzbar. Doch wir können zumindest versuchen, uns den natürlichen Erwartungen des Säuglings anzunähern. Modernes Familienleben und körperliche Nähe schliessen sich nicht aus. Statt unseren Babys viel blinkendes Spielzeug, ein perfekt eingerichtetes Kinderzimmer oder den komfortabelsten Kinderwagen zu beschaffen, könnten wir ihnen mehr Nähe und Alltags-Abenteuer bieten. Das Tragtuch oder die Traghilfe eignet sich dabei als «mobiler Ausguck» und «Basislager, um die Welt zu erforschen». Um es in den treffenden Worten von Herbert Renz-Polster (Kinder verstehen: Born to be wild) zu sagen.